Aus dem Alltag einer Suchtberaterin
9.00 Uhr: Erster Klienten-Termin heute. Herr B.* kommt seit gut sechs Monaten regelmässig in die Suchtberatung. Beim ersten Termin vor ungefähr 10 Monaten sagte er, er sei abhängig vom Alkohol und wolle davon wegkommen. Er habe deswegen gerade - im Alter von 55 Jahren - seine Arbeitsstelle verloren. Herr B. machte in der Psychiatrischen Klinik Zugersee einen zweiwöchigen Entzug und trat danach für eine stationäre Therapie ins Therapiezentrum Meggen ein. Er wusste, dass er seine Sucht nicht ohne Unterstützung überwinden kann und dass sein seit mehr als 20 Jahren bestehender Alkohol-Überkonsum nicht in ein paar Tagen zu verändern ist. In Meggen blieb er 16 Wochen. Seither lebt er ohne einen Tropfen Alkohol und kommt regelmässig zu Gespräche in die Suchtberatung. Er sagt, es helfe ihm, nicht wieder rückfällig zu werden. Heute spricht Herr B. über seine noch immer andauernde Arbeitslosigkeit, die ihn sehr belastet. Er hat Angst, nie wieder eine Stelle zu finden. Er ist aber auch stolz, dass er nicht wie früher Alkohol trinkt, um diese Situation besser aushalten zu können.
10.00 Uhr: Frau Z.* ist in meiner Agenda eingetragen. Sie erscheint aber unabgemeldet nicht. Ich versuche, sie um 10.30 Uhr telefonisch zu erreichen, aber sie antwortet nicht. Ich denke: Hat sie vielleicht wieder einen Alkoholrückfall erlitten? Frau Z. ist 50 Jahre alt, lebt mit ihrem Partner zusammen. Sie kämpft mit dem Alkoholkonsum. Seit gut dreissig Jahren trinkt sie regelmässig Alkohol, seit der Scheidung vor zehn Jahren vermehrt. Sie hat Phasen, in denen es ihr besser geht, sie den Konsum gut kontrollieren kann. Dann gibt es aber auch Phasen, in denen sie übermässig trinkt, dann kommt sie manchmal fast nicht aus dem Haus. Ich werde weiterhin versuchen, sie telefonisch zu erreichen.
11.00 Uhr: Sitzung mit einem Arbeitskollegen. Wir planen eine Veranstaltung, die wir für Eltern zum Thema Suchtmittelkonsum im Jugendalter gemeinsam durchführen werden.
13.30 Uhr: Kurze Sitzung mit dem fünfköpfigen Suchtberatungsteam, in welcher wir die Neuanmeldungen besprechen und den verschiedenen Suchtberaterinnen und Suchtberatern zuteilen. Diese Sitzung findet zweimal pro Woche statt.
14.00 Uhr: Gespräch mit Frau K.* Ich kenne Frau K. seit vielen Jahren, sie kommt immer mal wieder vorbei. Sie ist seit 40 Jahren mit ihrem heute 72-jährigen Mann verheiratet. Die zwei Söhne leben beide im Ausland. Ihr Mann hat seit vielen Jahren ein Alkoholproblem, verneint dies aber vehement und denkt auch nicht, dass er etwas ändern sollte. Wenn er zu viel getrunken hat, beschimpft er seine Frau, wird beleidigend und verletzend. Frau K. sagt, es tue ihr gut, hin und wieder mit jemandem über die Situation zu sprechen. In ihrem Freundes- und Familienkreis könne sie dies nicht so gut. Obwohl ihr Mann nichts an einem Verhalten verändern wolle, komme für sie eine Trennung nach 40 Ehejahren nicht in Frage.
15.00 Uhr: Paargespräch mit Frau und Herr R.* Herr R. kommt alle zwei Wochen zu Einzelgesprächen, alle zwei bis drei Monate kommt seine Frau mit. Herr R. hat einen ambulanten Alkoholentzug durchgeführt, trinkt aber doch hin und wieder Alkohol. In den Paargesprächen werden Themen rund um den Alkoholkonsum besprochen, aber auch solche, die das Zusammenleben, die Beziehung und die Familie betreffen.
17.00 Uhr: Termin mit P.*, einem 17-jährigen Jugendlichen. Er hat von seinem Lehrbetrieb die Auflage bekommen, für Gespräche zur Suchtberatung zu gehen. P. kiffte früher täglich mehrmals, hat schulische Probleme in der Gewerbeschule bekommen. Im Lehrbetrieb ist aufgefallen, dass er weniger engagiert und motiviert bei der Arbeit ist. P. hat seinen Cannabis-Konsum nach einem konfrontierenden Gespräch im Lehrbetrieb stark reduziert, er kifft nur noch am Wochenende. Er will seine Lehrstelle behalten und hat selbst festgestellt, dass seine Leistungen mit dem Cannabis-Konsum zusammenhängen. Er freut sich über die positiven Rückmeldungen vom Lehrbetrieb bezüglich seiner Leistung, und er ist stolz, dass er auch seine Noten in der Schule verbessern konnte. Heute ist das letzte von sechs Einzelgesprächen mit P., es wird noch ein Abschlussgespräch im Lehrbetrieb folgen, dann ist P. aus der Auflage entlassen.
* alle Namen geändert
Judith Halter, Suchtberatung