Es war zu viel. (Frau M. berichtet.)

Es war zu viel, bereits ab meinem 16. Lebensjahr. Heute bin ich über 50. Es gab immer wieder Zeiten, in denen ich Mass fand. Etwa indem ich mich in Ländern aufhielt, wo Trinken verpönt ist. Auch während Schwangerschaft und Stillzeit. Es war aber stets ein Warten darauf, dass ich wieder trinken kann. So wie jene, die abstinent sind während der Fastenzeit, um dann wieder ungehemmt zu schlucken.
Ausserdem: Ich hatte und habe mein Leben im Griff. Habe mich beruflich entwickelt, habe Verantwortung übernommen und mich nicht öfters als andere gehen lassen. Ein „normales" Leben also, nein, sogar mehr als das. Aufgrund meiner Basis darf ich durchaus sagen: Ich habe es zu was gebracht. Meine Motivation und meine Selbstdisziplin sind gross. Bis aufs Trinken.
Also habe ich mich immer wieder beruhigt. Zumal auch Beiträge in den Medien meistens melden: Alkis sind Leute, die mit ihrem Leben nicht klar kommen. Und irgendwann wegen irgendeiner Form von Vollcrash bei der Suchtberatung landen. Das betraf mich nicht.
Trotzdem war ich beunruhigt. Ich wusste: Es ist zu viel. Ich wusste auch: Allein komme da nicht raus. Immer mal wieder spielte ich mit dem Gedanken, bei den Anonymen Alkis vorbei zu gehen oder ähnliches. Und verwarf die Idee wieder. Ab und zu sprach ich mein Problem bei Bekannten an. Was kaum je wirklich Reaktionen auslöste. Zum Teil aus Hilflosigkeit und nicht zuletzt, weil ich mir ein Umfeld geschaffen hatte, in dem die Menschen ebenfalls grosszügig mit ihrem Umgang mit Betäubungsmitteln sind. Innerlich bat ich um Hilfe.
Vor einem guten Jahr vertraute ich mein Problem mal wieder einer Kollegin an. Es war Zufall, ich kannte sie kaum. Sie jedoch sprudelte los. Erzählte von ihrer Alk-Karriere und unter anderem davon, wie sehr ihr die Suchtberatung half. Sie motivierte mich: „Du schaffst das, pack es an!" Also wagte ich den Schritt, trotz nach wie vor bestehenden Vorurteilen und Ängsten.
Die Suchtberatung war überrascht, dass ich mich freiwillig melde und meinte, das sei eine gute Voraussetzung. Es gab nie den leisesten Ansatz eines Vorwurfes. Es hiess, ich sei der Chef und diejenige, die festlegt, wie es abläuft. Uff, ok. Für mich stand fest: Totalentzug mache ich nicht. Einerseits aus Angst, andererseits aufgrund meiner Erfahrung, dass dies nur dazu führt, dass ich totale Kontrolle und Disziplin ausübe, ohne das Problem an sich zu lösen. Nein danke.
Wir haben nach einem Prinzip der Zürcher Psychologin Maja Storch einen Weg gefunden, der mein Unterbewusstes, sprich meinen „Inneren Schweinehund" miteinbezieht. Ich gehe schrittweise vor. Setze mir realistische Ziele. Und das klappt weitgehend. Nach einem guten Jahr ist mein Konsum um etwa drei Viertel reduziert. Geheilt bin ich erst, wenn ich den Alk vergessen kann, auch über Tage. Nicht weil ich muss, sondern weil ich gern und motiviert darauf verzichten möchte. Ich bin noch nicht am Ziel. Aber ich nähere mich an. Das geht, weil ich auch kurzfristige Rückschläge verkrafte und mich dadurch nicht demotivieren lasse.
Mein Weg ist nicht für jeden geeignet. Aber sehr gut für Menschen, die wie ich ihr Leben im Griff haben, ihre Dinge durchziehen, sich Ziele setzen und diese umzusetzen vermögen. Und das im Einvernehmen und mit Rücksicht auf den Persönlichkeitsanteil der Sucht, der da schreit: Ich bin dein guter treuer Freund, habe dich durch all deine Ups and Downs begleitet, du wirst mich doch nicht einfach zum Teufel jagen! Nein, tue ich nicht. Wir verabschieden uns freundschaftlich, Schritt für Schritt und mit der Einsicht meines „Inneren Schweinehunds", dass er mir neben all dem Guten eben auch Schaden zufügt. Es ist nicht mein Ziel, den Rest meines Lebens ohne Alkohol zu verbringen. Ich möchte dazu einen entspannten und gesunden Umgang entwickeln.
Ich möchte mich an dieser Stelle von ganzem Herzen bei der Suchtberatung bedanken. Dafür, dass sie immer ein offenes Ohr für mich hat, so oft ich es brauche. Dass immer das Positive gesichtet wird, ohne das Negative zu negieren. Dafür, dass konstruktive Inputs kommen, dass ich begleitet und unterstützt werde. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich in irgendeiner Form Steuergelder für mich in Anspruch nehme. Nicht mal nach der Schwangerschaft war das der Fall, damals gab es noch keine Mutterschaftsversicherung. Dass ich diese Unterstützung kostenlos in Anspruch nehmen darf, ist zugegebenermassen mit ein Grund, weshalb ich diesen Schritt gewagt habe. Es ist ein guter Schritt. Ich kenne so viele Leute, die wie ich eigentlich keinen Anlass zu Beschwerden geben, weil sie im Alltag tun, was zu tun ist. Eigentlich braucht es dazu keinen übermässige Portion an Substanzen, egal welcher Art. Es ist befreiend, diese Abhängigkeit zunehmend hinter sich zu lassen. Go for it!