Stellungnahme zu Bundesgerichtsurteil
Die Sicherheitsdirektion nimmt das Urteil zur Kenntnis, das den Fokus auf zentrale grundrechtliche Fragen richtet. Allerdings lässt das Bundesgericht wichtige Aspekte zum betreffenden Fall offen. Unverständlich ist, warum das Risiko des Untertauchens nicht in die Erwägungen eingeflossen ist. Das Urteil bekräftigt die Notwendigkeit, geeignete Räumlichkeiten für ausreisepflichtige Familien zu erstellen. Ein Anliegen, das der Kanton Zug bereits in die nationale Politik getragen hat.
Das Bundesgericht hat die Beschwerde gegen die Haftanordnungen für eine afghanische Familie, die Ende Oktober 2016 im Rahmen des Dublin-Abkommens nach Norwegen zurückgebracht worden ist, gutgeheissen. Die Eltern wurden in Ausschaffungshaft genommen und die drei älteren Kinder während dieser Zeit in einem Kinderheim untergebracht. Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass diese Trennung der Familie unverhältnismässig war, weil mildere Massnahmen, wie etwa die Unterbringung in einer kantonseigenen Liegenschaft oder einem Durchgangsheim, zu wenig gründlich abgeklärt worden seien.
Kindeswohl hat hohe Priorität
Die Sicherheitsdirektion nimmt das Urteil des Bundesgerichts zur Kenntnis. Sie anerkennt und unterstützt, dass das Bundesgericht dem Kindeswohl höchste Bedeutung beimisst. Von diesem Gedanken war auch das Handeln der Zuger Behörden immer geleitet, wie der Zuger Sicherheitsdirektor Beat Villiger bestätigt: «In diesem delikaten und anspruchsvollen Fall haben die involvierten Behörden hervorragend und mit sehr viel Fingerspitzengefühl zusammengearbeitet. Das Wohlergehen der Kinder hatte dabei immer allererste Priorität.»
Bedauerlicherweise geht das Urteil nicht darauf ein, wie die jeweiligen Familienverhältnisse in Bezug auf das Kindeswohl bei den Entscheiden im Einzelfall zu berücksichtigen sind. So haben im vorliegenden Fall innerfamiliäre Zustände und Vorfälle die Entscheidungen des Amts für Migration erheblich beeinflusst. Hier wäre für den Umgang mit künftigen Fällen Klarheit vom Bundesgericht erwünscht.
Gefahr des Untertauchens nicht erwogen
Während ihrem Aufenthalt im Kanton Zug bekräftigten die Eltern mehrfach, dass sie nicht gewillt seien, die Schweiz zu verlassen und sie verhielten sich entsprechend. Die in der Schweiz wohnhafte Verwandtschaft setzte gleichzeitig alle Hebel in Bewegung, dass die Familie in der Schweiz bleiben konnte. Es erstaunt darum sehr, dass das Bundesgericht die Gefahr des Untertauchens in seinem Urteil nicht in Erwägung gezogen hat. Denn dieser Umstand spielte für das Handeln des Amts für Migration in diesem Fall eine zentrale Rolle.
Um die Ausreise der ganzen Familie sicherzustellen gab es nach dem gescheiterten ersten Ausreiseversuch keine andere Möglichkeit als die Eltern in Ausschaffungshaft zu nehmen und die Kinder in einer geeigneten, auf Kinder spezialisierte Institution unterzubringen. Selbstverständlich evaluierte das Zuger Amt für Migration dabei sorgfältig auch andere Massnahmen, die in diesem Fall aber verworfen werden mussten.
Gesetzeslücke nicht geschlossen
Da Kinder unter fünfzehn Jahren nicht inhaftiert werden dürfen – was die Sicherheitsdirektion ausdrücklich unterstützt und auch nie zur Debatte stand – bleibt im Fall der Haft der Eltern keine andere Möglichkeit als die Unterbringung in einem Kinderheim. In den vorhandenen Unterkünften oder im Durchgangsheim, wo die Familie zuvor einquartiert war, kann keine Bewachung oder Begleitung rund um die Uhr sichergestellt werden. Bedauerlicherweise klärt das Urteil nicht über erlaubte Alternativen zur Sicherstellung der Ausreise von Familien auf. Hier besteht weiterhin eine Gesetzeslücke, wie mit Familien in Fällen einer Administrativhaft rechtmässig umgegangen werden muss, wenn klare Anzeichen für ein Untertauchen vorhanden sind. So mahnt Sicherheitsdirektor Beat Villiger: «In der Konsequenz bedeutet dieses Bundesgerichtsurteil, dass es in der Praxis kaum mehr möglich sein, Familien zurückzuführen, die nicht freiwillig ausreisen.»
Bund und Kantone sind für Problematik der Unterbringung gefordert
Für die Kantone eröffnen sich durch das Urteil auch weitere finanzielle Risiken. Seit der letzten Asylgesetzrevision müssen die Kantone sämtliche anfallenden Kosten übernehmen und der Bund streicht seine Subventionen, wenn eine Wegweisung nicht rechtzeitig vollzogen wird.
Zu begrüssen ist, dass das Bundesgericht die Herausforderungen, die sich mit der Unterbringung von Familien in vergleichbaren Fällen in der Schweiz stellen, in den Fokus rückt. Es existieren in der Schweiz keine familiengerechten Unterbringungsmöglichkeiten für den Fall einer Administrativhaft, die es erlauben, dass die Familienmitglieder zusammenbleiben.
Die Sicherheitsdirektion hat die Problematik der fehlenden Räumlichkeiten für ausreisepflichtige Familien erkannt. Regierungsrat Beat Villiger hat bereits im Frühjahr den politischen Prozess dazu angestossen und die Thematik in die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren KKJPD sowie in die Gremien des Strafvollzugskonkordats Nordwest-Innerschweiz eingebracht. Auch die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) hat dies anlässlich eines Gesprächs mit der Sicherheitsdirektion im Februar 2017 anerkannt und aufgenommen. Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts verleiht der Problematik hohe Priorität und Dringlichkeit.
Gefordert ist auch der Bund, die mit dem Vollzug beauftragten Kantone dabei zu unterstützen, die geforderten familiengerechten Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen. Ebenfalls ist der Problematik bei der Planung und dem Bau der neuen Bundesasylzentren besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
Medienmitteilung SD zu Urteil BGer
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