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16.11.2012

Morgartenfeier 2012

16.11.2012
Morgartenfeier 2012; Rede Landammann Matthias Michel

697. Jahrzeit der Schlacht am Morgarten, 15. November 2012

Die Schweiz entsteht immer wieder von Neuem

Ansprache von Landammann Matthias Michel, Zug


Hochwürdige Herren
Geschätzte Räte und Richter der Stände Schwyz und Zug
Geschätzte Repräsentanten der Armee und der Verwaltung
Geschätzte Gäste aus Bund, Kantonen, Bezirke und Gemeinden
Sehr geehrte Damen und Herren

Morgarten bedeutet uns viel. Darum sind wir heute hier. Über Morgarten wissen wir auch viel, zumindest glauben wir, viel zu wissen. Denn es gibt weder Urkunden noch Augenzeugenberichte darüber, was vor bald 700 Jahren am Morgarten genau geschehen ist, sondern nur Nacherzählungen.

Ebenso wenig kennen wir den genauen Ort der Schlacht. Gerade deshalb gab es vor rund 100 Jahren heftige Irritationen zwischen den Schwyzern und Zugern. Beide Seiten wollten das Morgartendenkmal auf ihrem Boden haben. Die Folge war, dass die Schwyzer der Einweihung des Denkmals im Jahre 1908 demonstrativ fernblieben. Erst 1940, nach einem Appell von Bundesrat Philipp Etter und im Beisein von General Guisan, sassen unsere beiden Regierungen von Schwyz und Zug erstmals am Morgartenschiessen am selben Tisch! Und man sagt, erst vor wenigen Jahren hätten sich die Landammänner beider Kantone bei diesem Anlass erstmals die Hand geschüttelt.

Umgekehrt wissen wir heute aber, dass die Schlachten und Scharmützel gegen die Habsburger weniger eine Freiheitsbewegung von Bauern und kein Aufstand gegen Unterdrückung waren, sondern ein Kampf um Erbe und Macht, nämlich um die Macht des lokalen Adels gegen habsburgische Ansprüche. Dieses Wissen der neueren historischen Forschung verdanken wir vor allem Prof. Roger Sablonier, der in Zürich gelehrt und in Zug gelebt hat.

Wissen wir nun zuviel? Zieht uns dieses Wissen den historischen Boden unter unseren Füssen weg? Wankt damit unser nationales Selbstverständnis?

Nein, natürlich wissen wir nicht zuviel. Dieses Wissen hilft uns vielmehr, Entwicklungen und Zusammenhänge besser zu erkennen und einzuordnen.

Wird jedoch mit diesem Wissen der Unabhängigkeitskampf unserer Gründerväter, der gemeinsame Verteidigungswille und die Motivation, als Willensnation zusammenzugehören, ins Reich der Mythen verdrängt? Mehr noch: Dürfen wir den heutigen Tag gar nicht mehr feiern? So betitelte ein alt Regierungsrat (nicht eines Innerschweizer Kantons) vor zwei Monaten seine Kolumne in der NZZ am Sonntag mit: "Schlachtjubiläen sind nicht sinnvoll".

Was wollen wir also hier und heute, wenn die Schlacht am Morgarten nicht mehr Anlass zu einer Feier sein darf, wenn das neuere Geschichtswissen unser historisches Selbstverständnis demontiert und es ins Reich der Mythen versetzt?

Mythen sind aber keine Märchen oder gar Lügen! Die Mythen, auf welchen unser nationales Selbstverständnis massgeblich beruht, haben unbedingt ihre Berechtigung und eine Bedeutung. Denn Mythen, wie die gleichnamigen Berggipfel im Kanton Schwyz, bergen Wahrheiten und Werte.

In träfer Weise hat der eben mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Germanist Peter von Matt die Bedeutung von Mythen beschrieben, dies in seiner Rede zum 1. August 2009 auf dem Rütli. Für ihn ist ein Mythos zwar nicht tatsachengetreu, aber stimmig. Weil ein Mythos eine politische Geschichte und eine Werthaltung zum Ausdruck bringt. Und Werte und Überzeugungen sind gerade für eine Nation ebenso wichtig und oft wichtiger, als die wissenschaftlich als wahr definierte Realität der Vergangenheit.

So steht etwa der Mythos vom Rütli für den Willen, als Eidgenossen zusammenzugehören. Oder nehmen wir den Mythos Wilhelm Tell: Zwar wissen wir, dass die Geschichte von Wilhelm Tell eine Dichtung Schillers ist. Eine Dichtung aber mit Werten, etwa der tiefen Überzeugung, dass die Obrigkeit ihre Grenzen hat. Oder denken wir etwa an den Individualismus eines Tell, der sich den Eidgenossen nicht anschliessen will und sagt: "Der Starke ist am Mächtigsten allein". Worauf die Eidgenossen solidarisch antworten: "Vereint sind auch die Schwachen mächtig".

Ist nun der Individualismus eines Tell unser Wert oder die Solidarität der Eidgenossen? In unserem Staat versuchen wir, zwischen beiden Werten eine Verbindung und einen Ausgleich zu schaffen.

Auch andere Werte, die uns wichtig sind, mögen auf den ersten Blick als Gegensatzpaare daherkommen, zwei Beispiele:

Wir leben Tradition und Brauchtum einerseits, von der Aarauer Bachfischet bis zum Zürcher Sechseläuten, von der Aelplerchilbi in der Innerschweiz bis zum Zibelimärt in Bern, vom Dreikönigssingen bis zum Eidgenössischen Feldschiessen. Gleichzeitig gehört die Schweiz zu den innovativsten Ländern der Welt.

Ein anderes Beispiel: Die Schweiz wurde oft als isolationistische Insel in Europa bezeichnet, gar als borstiger Igel. Umgekehrt gehört unsere Wirtschaft zu den globalisiertesten der Welt. Dank einem dichten Netz von bilateralen Verträgen und Freihandelsabkommen schlägt sich die Schweiz eher als schlauer Fuchs durch.

Ja, was sind wir nun: Sind wir individualistische Tellensöhne und -töchter oder ein solidari-sches Volk von Hirten? Sind wir Traditionalisten oder Innovative? Sind wir Igel oder Füchse? Genau diese Spannungsfelder machen unsere Eigenart und Stärke aus. Denn wir verstehen sie nicht als Gegensätze, sondern als Ergänzungen.

Es geht nicht um Überheblichkeit oder falschen Stolz. Nein, es geht darum, uns unserer Stärken und unserer nationalen Eigenart bewusst zu werden. Nur so können wir uns in der grossen Welt behaupten.

Umgekehrt können wir uns nicht ganz allein behaupten. Die bisherige Entwicklung der Schweiz und unsere Zukunft hängen auch stark von den Entwicklungen in Europa ab. Dieses Europa sowohl als wirtschaftliche als auch als politische Ordnung - ist für die Schweiz existenziell, auch wenn dieses Europa im Kleid einer Europäischen Union (EU) daherkommt, bei der uns viel nicht passt. Denn diese EU ist ein Friedens- und Wirtschaftsraum, von dem auch die Schweiz profitiert. Wir sollten deshalb unsere Beziehung zur EU zwar selbstbewusst, aber auch mit Respekt ihr gegenüber gestalten.

Wenn Morgarten und die heute gefeierte Erinnerung an diese Schlacht dazu beitragen, Klarheit über unsere Werte zu gewinnen und innezuhalten, um über die Vergangenheit und die Zukunft nachzudenken, dann bleibt Morgarten bedeutend. Auch bieten uns Morgarten und andere Erinnerungsfeiern Gelegenheit darüber nachzudenken, wie wir uns als kleines Land mit unseren Eigenarten, Stärken und Werten in einem dynamischen europäischen und globalen Umfeld behaupten. Denn, um mit dem Fazit des vorerwähnten Historikers Roger Sablonier, zu schliessen: "Die Schweiz ist weder 1291 noch 1848 entstanden, sie entsteht immer wieder von Neuem." Tragen wir unseren Teil dazu bei - mit unseren Eigenarten und Stärken! Unser Land immer wieder entstehen zu lassen, dafür stehen wir in der Verantwortung!
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Quellen:
Roger Sablonier, Gründungszeit ohne Eidgenossen, Politik und Gesellschaft in der Innerschweiz um 1300, Baden 2008
Peter von Matt, Rede auf dem Rütli am 1. August 2009, in: Das Kalb vor der Gotthardpost, München, 2012
 

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